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01.07.2022

„Mir kommt sehr nahe, dass ich mich nur bessern kann, wenn ich etwas dafür tue.“

Interview mit Ingeborg Hungerleider aus Anlass ihres 95. Geburtstags und in Wertschätzung ihrer wertvollen Arbeit für den Buddhismus in Österreich.

 

Ingeborg Hungerleider wurde am 11. Dezember 1926 in Frankfurt als Ingeborg Mannheimer geboren. Durch ihre frühe Heirat mit Fritz Hungerleider (1920–1998) kam sie mit dem Buddhismus sehr früh in Kontakt. Ihr Mann war Religionswissenschaftler und der erste Präsident der Buddhistischen Gemeinschaft Österreichs (1955–1976), der Vorläuferorganisation der ÖBR. Er war somit eine zentrale Person des Buddhismus in Österreich und wirkte namhaft an der staatlichen Anerkennung der ÖBR mit. Frau Hungerleider ist somit eine der wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen von damals.

 

ÖBR: Liebe Frau Hungerleider, wir möchten uns nochmals herzlich bedanken für die Möglichkeit zu diesem Interview.

 

Ingeborg Hungerleider: Schön, dass Sie kommen konnten und kommen wollten.

 

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ÖBR-Präsident Gerhard Weißgrab und ÖBR-Generalsekretär Hannes Kronika

beim Interview mir Frau Ingeborg Hungerleider

 

ÖBR: Jetzt haben Sie schon ein sehr langes und bewegtes Leben hinter sich und sind zum Buddhismus gekommen. Aber Sie sind nicht als Buddhistin geboren worden, wie ist es dazu gekommen?

 

Ingeborg Hungerleider: Ich werde Ihnen ganz kurz etwas erzählen: Ich komme aus einem mosaischen Haus, meine Eltern waren nicht orthodox, aber ich war orthodox, denn meine beste Freundin war die Tochter vom Oberrabbiner von Frankfurt. Er hatte zur damaligen Zeit eine große Macht und Ausstrahlung gehabt. Mein Vater ist am 9. November 1938 verhaftet worden und wurde nach Buchenwald gebracht (Anm.: Buchenwald war eines der größten Konzentrationslager in Deutschland und liegt in der Nähe von Erfurt). Ich bin an diesem Tag in der Früh zu meinem Tempel gegangen, der nicht weit weg war von uns, und der hatte gebrannt. Ich war damals elf Jahre alt. Dann habe ich mich am Straßenrand hingesetzt und bitterlich geweint und zu mir gesagt: „Wenn meine Synagoge brennt, gibt es für mich keinen lieben Gott.“ Und von diesem Tag an war mein religiöses Gefühl nicht mehr das gleiche. Ich bin dann von der Synagoge in Frankfurt weg und nach Hause gegangen, und da ich im Dezember Geburtstag hatte, fragte mich meine Mutter, was ich mir denn wünsche. Und ich sagte, dass mein Papi nach Hause kommen solle. Dazu fällt mir noch ein, dass meine Mutter eine christliche Freundin hatte, die privat so eine Art Wahrsagerin war [:lacht], und sie glaubte an so etwas, und die sagte zu ihr: „Hör zu Paula, ihr habt ja gültige Reisepässe, und wenn du eine Schiffspassage nach China kaufst, dann lassen sie den Josef raus.“

 

ÖBR: Und was geschah dann an Ihrem Geburtstag?

 

Ingeborg Hungerleider: Es läutete, und mein Vater steht bei der Tür draußen und kommt rein, das war wie ein Wunder. Meine Mutter hatte die Passagen gekauft, und am 29. April 1939 sind wir dann von Genua mit der alten Conte Biancamano (Anm.: War damals ein luxuriös und modern ausgestatteter Ozeandampfer der italienischen Reederei Lloyd Sabaudo) nach Shanghai in China.

 

ÖBR: Wie lange dauerte die Reise?

 

Ingeborg Hungerleider: Es ging durch den Suezkanal und dauerte 28 Tage, und es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich war 28 Tage seekrank. Ich lebte nur von Zitronensaft und war so schwach, dass man mich mit der Bahre vom Schiff tragen musste. Wir gingen von Bord und fuhren mit einem kleineren Boot an Land. Sehr interessant war, dass die Immigrationsbehörde kam, und die erklärten uns, dass wir alles mit abgekochtem Wasser waschen sollten, auch die Bananen mit Schale. Damit das Wasser einen besseren Geschmack bekommt, sollte man eine Watte mithineingeben beim Kochen. Also eine riesige Prozedur. Dann kam ein Arzt und hielt eine Rede an die ankommenden Ärzte. Also wenn jemand zu einem chinesischen Patienten gerufen wurde, dann sollten sie fragen, ob er einen Selbstmordversuch gemacht hat. Denn wenn er einen Selbstmordversuch gemacht hat, muss er nicht nur ihn, sondern auch seine Familie ein Leben lang erhalten. Und in China, da ist eine Familie so groß, die sind bei uns schon lange keine Mitglieder mehr [:lacht].

 

ÖBR: Nach dieser „Begrüßungsrede“ haben sich viele Ärzte gemeldet?

 

Ingeborg Hungerleider: Doch einige, denn es waren ziemlich viele Ärzte am Schiff. Es sind ja sehr viele talentierte und gute Ärzte von Deutschland vertrieben worden.

 

ÖBR: Seid ihr dann gleich in ein Haus gezogen?

 

Ingeborg Hungerleider: Nein, vorerst kamen wir in ein Auffanglager und wurden von reichen Juden, die vor Ort schon einige Hochhäuser hatten, unterstützt, sie hatten uns sozusagen aufgefangen. Danach versuchte jeder seinem Beruf nachzugehen und eine passende Unterkunft zu bekommen, es war nicht leicht damals.

 

ÖBR: Wie kann man sich das Leben im Exil von damals vorstellen?

 

Ingeborg Hungerleider: Wir wohnten in der französischen Konzession (Anm.: Die französische Konzession in Shanghai wurde 1849 von französischen Geschäftsleuten und Händlern gegründet und bildete bis 1946 ein autonomes Gebiet) und ich bin dort in die Schule gegangen. Mein Vater mietete für uns Kinder privat jeden Tag eine Rikscha, die uns in die Schule bringen sollte, da diese 45 Minuten Gehzeit entfernt lag, und es kein öffentliches Verkehrsmittel gab. Das hat mir aber nicht sehr gefallen, und so habe ich immer meinen Sitzplatz vermietet und habe dafür kassiert und bin hin und zurück zu Fuß gegangen. Mein Bruder stand am Abend weinend vor meinen Vater, der mich nicht so mochte, weil ich ein Mädchen war, und so fragt mich mein Vater: „Warum machst du das?“ Ich antwortete ihm: „Schau, du gibst mir kein Taschengeld, ich will aber Geschenke machen und daher brauche ich Geld und deshalb gehe ich immer zu Fuß.“

 

ÖBR: Da war Ihr Vater stolz auf Sie?

 

Ingeborg Hungerleider: Nein, er war nie stolz auf mich, aber er konnte auch nichts dagegen sagen.

 

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„Ich war immer ein sehr wildes Kind.“

 

ÖBR: Haben Sie Ihren späteren Mann (Anm.: Fritz Hungerleider übernahm 1955 die Leitung der Buddhistischen Gesellschaft in Österreich) in Shanghai kennengelernt?

 

Ingeborg Hungerleider: Ich lernte ihn mit 12 Jahren kennen, wir wohnten im selben Haus. Die Hungerleiders im ersten Stock und die Mannheimers (Anm.: Mädchenname von Ingeborg) im Parterre. Ich war immer ein sehr wildes Kind, denn ich hätte als Ältere ein Bub werden sollen und mein jüngerer Buder das Mädchen. Ich bekam seine Indianeranzüge und er hat meine Puppen bekommen. Mein Bruder ist sittsam unten gestanden und ich war im Baumwipfel oben. Und eines schönen Sonntagvormittags sahen meine zukünftigen Schwiegereltern, von denen ich nie glaubte, dass sie es werden, zu mir in den Baumwipfel nach oben. Ich saß da im Nachthemd, und meine zukünftige Schwiegermutter sagte zu ihrem Mann: „Um Gottes willen, wer die einmal zur Frau kriegt, der ist verpflegt.“ [:lacht] Und mein zukünftiger Mann hat raufgerufen: „Schämst du dich nicht, du großes Mädchen, willst einmal eine Dame werden und sitzt am Baum oben.“ Ich antwortete, dass ihn das gar nichts angehen würde und habe ihm dreimal auf den Kopf gespuckt. Damals habe ich das gewagt, später machte ich nichts mehr. Am nächsten Sonntag hat er mich gefragt, ob ich mit ihm spazieren gehen möchte. Darauf sagte ich ja, aber ich muss meinen Bruder fragen, ob er mitkommt, denn der begleitet mich. Wir sind in den Jessfield-Park gegangen, das war ein chinesischer Park, der englisch geführt wurde. Wir haben zu Mittag gegessen, die chinesischen Gerichte waren nach europäischem Geschmack abgestimmt. Danach bin ich nach Hause gekommen und war zwei Minuten zu spät und bekam Schläge von meinem Vater, dass ich nicht mehr sitzen konnte, und bekam 14 Tage Ausgehverbot. Deshalb nehme ich es jetzt auch noch so genau mit der Zeit. Meine Freundin damals war die Tochter des belgischen Botschafters, und die hatten nebenan eine Villa, und sie lud mich zu ihrem Geburtstag ein. Und ich bekam damals von meiner Mutter ein sehr schönes Kleid mit 12 Unterröcken, dass mir das Kleid ordentlich steht. Meiner Freundin gefiel das Kleid so gut, dass sie es haben wollte. Ich sagte zu ihr, ja, du hast 20 weiße Tanzmäuse, wenn du mir die gibst, bekommst du mein Kleid bis auf einen Unterrock, weil ich noch nach Hause gehen muss. Wir haben also die 20 weißen Mäuse gegen mein Kleid mit den Unterröcken getauscht und ich ging nach Hause. Aber ich bekam wieder viel Ärger mit meinem Vater und musste zu meinem Überdruss noch alle Mäuse zum Pasteur-Institut bringen. Ich machte mich auf den Weg und setzte mich auf die Stufen und habe geweint. Da ist zufällig die Oberin gekommen und fragte mich nach meinem Kummer. Nach meiner Erzählung hat sie zu mir gesagt: „Ich gebe dir mein Wort, denen passiert überhaupt nichts, du kannst sie dalassen und sie werden gut versorgt.“ Und so war es. Ich glaube, ich besuchte sie noch einmal.

 

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„Ich tauschte mein Kleid gegen 20 weiße Tanzmäuse.“

 

ÖBR: Sammelten Sie außer Mäusen noch andere Tiere?

 

Ingeborg Hungerleider: Ja, so war’s. Ich sammelte alles, was lebendig war. Vis-à-vis von uns war der französische Polizei-Club, der hatte einen indischen Watch-Man mit einem Turban. Die Inder hatten damals sehr viele Restaurants, die Russen hatten das Ballett und das Theater gehabt. Ich hatte meistens tierische Findelkinder. Und da ich sie nicht mehr nach Hause mitnehmen durfte, habe ich sie immer jemandem gegeben. Ich hatte einmal einen Wollknäuel (Anm.: Hundebaby) bekommen, den habe ich einer weißrussischen Freundin gegeben, der ist später Sieger von China geworden. Dann hatte ich ein Findelkind mit einem Kopf von einem Zwergschnauzer und dem Körper von einem Dackel. Dieses Findelkind hängte ich den Hungerleiders an. Ich sagte zu ihnen: „Hören Sie zu: Bitte nehmen Sie den Hund, ich darf ihn nicht mehr nach Hause bringen, ich füttere ihn, ich bade ihn, ich führe ihn immer äußerln und Sie können sich darauf verlassen, aber nehmen Sie ihn nur, damit er ein Dach überm Kopf hat.“ Meine zukünftige Schwiegermutter hat gesagt, wir hatten noch nie einen Hund, aber wir haben einen Wellensittich gehabt. Ich habe darauf gesagt, das ist etwas anderes [:lacht], aber ich betreue ihren Hund. Und den betreute ich wirklich. Eines schönen Sonntags, als alle von der Kirche gekommen sind, kam ein großes Geschrei von oben und ich dachte, es sei etwas passiert, und so rannte ich hinauf und wurde in die Wohnung gebeten. Der Hund stand stolz vor der Badewanne und hatte eine große Ratte gefangen. Meine spätere Schwiegermutter sagte, ich solle ihn wegbringen. Sie meinte zu mir, dass ich die Ratte doch nicht anfassen würde, ich sagte, das sei auch ein Lebewesen und nahm eine Schuhschachtel, setzte ihn (sie?) rein und habe ihn (sie?) weit weggebracht. Und dieser Hund kam von China nach Wien, der brauchte mehr Dokumente als wir [:lacht]. Am Schiff war er am Oberdeck, und in einem Champagnerkelch habe ich ihm in der Früh immer ein Futter gebracht.

 

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 „Lieben Sie Tiere und lieben Sie Pflanzen?
Bei einem Nein hätte er keine Chance gehabt.“

 

ÖBR: Durch diesen Hund lernten Sie ­Ihren zukünftigen Mann näher kennen.

 

Ingeborg Hungerleider: Ja, ja, das Erste was ich ihn gefragt habe, war: „Lieben Sie Tiere und lieben Sie Pflanzen?“, sonst hätte er keine Chance gehabt. [:lacht]

 

ÖBR: Ich nehme an, dass er bejaht hat.

Ingeborg Hungerleider: Damals hätte er alles bejaht [:lacht], er war verliebt in mich.

 

ÖBR: Sie heirateten sehr früh damals, hatte Ihr Vater nichts dagegen?

 

Ingeborg Hungerleider: Ja, ich heiratete mit 16. Er war einverstanden mit der Verlobung, die fand in einem großen Nachtclub statt, denn mein Vater hatte gerne Nachtclubs. Er sagte nach einem Monat, die Verlobung muss gelöst werden, ich soll einen jungen Weißrussen heiraten, der wahnsinnig reich war. Ich sagte zu meinem Vater, wenn du ihn liebst, dann musst du ihn heiraten, ich nicht. Denn nach damaligem chinesischem Gesetz war es so, dass die Eltern der minderjährigen Tochter die Einwilligung zur Verlobung und zur Hochzeit geben müssen, aber die Verbindung lösen kann nur das Brautpaar selbst, und das war unser Glück. Aber es waren allergrößte Schwierigkeiten. Wir haben dann nach den chinesischen Riten und Gebräuchen in einem Kaffeehaus geheiratet. Das war in der Nähe von uns, denn wir waren zu dieser Zeit schon hinter Stacheldraht, da wir japanisch besetzt waren.

 

ÖBR: Japanische Besatzung in Shanghai?

 

Ingeborg Hungerleider: Es regierte dort ein kleiner Mann mit großen Minderwertigkeitskomplexen. Der sagte, dass wir hinter der Grenze bleiben mussten. Nur meine Schwiegermutter und ich konnten aus dieser Zone rausgehen, meine Schwiegermutter, weil sie katholisch war, und ich, weil ich beim Roten Kreuz war. Aber wir beide gingen nicht hinaus und blieben bei unseren Familien. Dieser Regent war von Hitler so begeistert, dass er vor Ort Gaskammern gebaut hat. Wenn die Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki nicht gefallen wäre, hätte er alle österreichischen, deutschen, englischen und amerikanischen Juden umgebracht. Wir lebten damals sehr gefährlich.

 

ÖBR: Ich kann mir vorstellen, wie glücklich Sie über das Ende des Krieges waren.

 

Ingeborg Hungerleider: Ja, wir haben groß gefeiert. Meine Schwiegermutter war eine sehr verwöhnte Dame von Jugend her. Ihr Onkel hatte einen Haute-Couture-Laden am Kohlmarkt, und da arbeitete sie im Büro. Sie war sehr klein und wog 130 Kilogramm, schon mit 16 Jahren, sie war aber immer toll angezogen.

 

ÖBR: Sind Sie dann gleich nach Österreich zurückgefahren?

 

Ingeborg Hungerleider: Meine Eltern und mein Bruder sind 14 Tage vor uns in die USA ausgewandert. Mein Mann wollte nie in die USA, sie hatten ihm vorher kein Visum gegeben, und so wollte er auch nach dem Krieg nicht in die USA. Wir sind dann mit dem ersten umgebauten Truppentransporter, der Marine-Falken, 33 Tagen lang nach Neapel zurückgefahren. Natürlich war ich wieder die ganze Zeit seekrank.

 

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„Ja, ich möchte mitgehen zu den Chinesen, wenn Sie die missionieren,

damit ich weiß, wieso und warum die zum Christentum kommen.“

 

ÖBR: Wann hat Ihr Mann mit der Religionswissenschaft angefangen?

 

Ingeborg Hungerleider: Als er noch in Wien war, mit fünf Jahren. Mit seinem Vater ist er am Samstag in die Synagoge gegangen und mit der Mutter am Sonntag in die Kirche. Jetzt hat er seinen Religionslehrer immer wieder befragt, ab dem fünften Lebensjahr, bis in die Handelsakademie. Den Religionslehrer, ein sehr gescheiter Mensch, den hat er vor sieben Uhr in der Früh bei seiner Wohnung abgefangen und hat ihn schon interviewt. Er ist immer allem auf den Grund gegangen.

Als in Shanghai der Pater Draxler seinen 70. Geburtstag feierte, hat mein Mann einen Chor einstudiert und gesungen, denn er hatte eine prächtige Stimme. Er hatte auch Gesang studiert und trat auch in Shanghai im Rundfunk auf. Pater Draxler sagte zu ihm: „Hungerleider, ich möchte Ihnen eine Freude machen, was kann ich für Sie tun?“ Und wenn man ihm alles so freigestellt hat, so war das immer ein bisschen riskant. [:lacht] Ja, ich möchte mitgehen zu den Chinesen, wenn Sie die missionieren, damit ich weiß, wieso und warum die zum Christentum kommen. Also, der Pater Draxler hat sich gedreht und gewendet wie ein Regenwurm, aber er kam ihm nicht aus, und eines schönen Tages konnte er mitgehen. Und er kam dem Pater sofort auf die Schliche, denn in der Wohnung war ein Kreuz, dort eine alte Buddhastatue aus dem 16. Jahrhundert und eine modernere schintoistische Statue, also da war alles Mögliche. So war mein Mann dabei, wie diese chinesische Familie zum Christentum übergetreten ist. Als er das sah, musste er gar keine Fragen mehr stellen.

 

ÖBR: So gesehen, hatte die chinesische Familie alle Religionen bei sich vereint, und welche Schlüsse zog Ihr Mann daraus?

 

Ingeborg Hungerleider: Sie haben alles aufgesogen, und wenn Sie den Ursprung des Buddhismus betrachten, wie der Prinz Gotamo von zu Hause weggegangen ist und seine Frau Maya und das Kind verlassen hat und ein Asket war und draufgekommen ist, wenn man nichts isst, kann man nicht denken und meditieren, und als er wieder zu essen begonnen hat, kam ihm die Erkenntnis, nur der Weg der Mitte ist möglich, ein anderer Weg nicht. Wir kommen ja auch zur Erkenntnis, dass wir nur auskommen können mit Menschen, wenn wir den mittleren Weg suchen und den Menschen entgegenkommen und nicht auf unseren Willen beharren.

 

ÖBR: Nach Wien zurückgekommen, hat Ihr Mann mit dem Buddhismus begonnen?

 

Ingeborg Hungerleider: Mein Mann hat einen Raum gemietet im ehemaligen Porrhaus in der Nähe der Sezession. Da trafen wir uns immer. Wir hatten damals sehr viele buddhistische Freunde. Das Porrhaus war gekrönt durch den Besuch des Dalai Lama im Jahr 1973.

 

ÖBR: Wie gestaltete sich der Besuch vom Dalai Lama 1973?

 

Ingeborg Hungerleider: Es war sehr schwierig, ihn unterzubringen, und Kardinal Dr. König bot seine Räumlichkeit zur Unterbringung an. Mein Mann und der damalige Kardinal waren sehr gut miteinander und hatten immer bei Empfängen viel zu plaudern. Kardinal Dr. König hatte eine Einladung nach Indien und man wollte ihn in einem Kloster unterbringen und er sagte, er wolle lieber bei einer indischen Familie wohnen. Dr. König sagte zu meinem Mann: „Hungerleider, kommen Sie zu mir“, und er ging hin und er sagte zu ihm: „Jetzt verstehe ich Sie besonders gut, jetzt weiß ich, was der Buddhismus und der Hinduismus wirklich sind, ich habe sie erlebt.“ Und er sagte noch, wir können von den Indern noch sehr viel über Religion lernen.

 

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Seine Heiligkeit der Dalai Lama und Prof. Hungerleider 1973 in Wien

 

ÖBR: War nicht die gute Beziehung Ihres Mannes zu Kardinal Dr. König der Funke, der die staatliche Anerkennung der ÖBR brachte?

 

Ingeborg Hungerleider: Wahrscheinlich, denn mein Mann hat die Geschichte bei der Wurzel gepackt, denn bei den Ministerien hat sich mein Mann die Haxen ausgerannt, wie man auf gut Wienerisch sagt. Ja, es hat lang gedauert. Er sagte immer, es gibt 500 Millionen Buddhisten auf der Welt. Er war damals eine der treibenden Kräfte für die staatliche Anerkennung des Buddhismus in Österreich. Mein Mann war 21 Jahre lang Präsident der Buddhistischen Gesellschaft. Wir wollten dann wieder etwas mehr reisen, und mein Mann hat die Präsidentschaft übergeben.

 

ÖBR: Wie ist Ihr Mann zum Buddhismus gekommen?

 

Ingeborg Hungerleider: Er hatte Religionswissenschaften studiert, und in China hat ihn der Buddhismus angezogen. Er hat ihn dann dort studiert, obwohl der Buddhismus in China etwas unterschiedlich zum ostasiatischen Buddhismus wie Sri Lanka oder Thailand ist, war er doch als Buddhismus zu erkennen. Wir waren 183 Tage in Japan und vom Fürst-Patriarchen von Kyoto zur 750-Jahr-Feier eingeladen. Bei diesem Fest verbrachten wir 14 Tage. Es entstand eine Freundschaft, und die Fürstenfamilie hat uns alle 2 Jahre hier in Wien besucht. Mein Mann studierte damals in Japan ein halbes Jahr im Tempel Zen-Buddhismus.

 

Eines Tages ging mein Mann mit mir in den Stadtpark und sagte, ich muss dich etwas fragen. Ich möchte Teile der Firma verkaufen und verpachten und mich ganz dem Buddhismus widmen. Ich solle ein paar Minuten nachdenken. Dann sind wir noch um den Teich herumgegangen, und da sagte ich zu ihm, erstens musst du mit deiner Mutter reden, die war beteiligt an der Firma. Aber von mir aus ja, wenn es dich glücklich macht. Die Mutter war recht unglücklich und hat meinen Mann gefragt, was sagt die Inge dazu. Und er sagte, ich habe schon mit ihr darüber geredet. Damals musste ich um halb 4 Uhr in der Früh schon aufstehen und er hat bis 3 Uhr morgens noch gelesen und um 4 Uhr habe ich ihm noch das Frühstück ins Bett gebracht, bevor ich in die Arbeit gefahren bin.

 

ÖBR: Was sagen Sie zu Frauen im Buddhismus in den 1970er Jahren?

 

Ingeborg Hungerleider: Mir ist der Buddhismus sehr nahegekommen, da ich mich vom Judentum entfernt habe. Ich schätze jede Religion und gehöre einem christlichen Orden an, dem heiligen Lazarus-Orden von Jerusalem und bin dort Großkreuzdame, wenn ein Fest ist, dann sehe ich aus wie ein russischer General mit lauter Orden [:lacht], da bin ich mit der Kirche sehr vertraut, aber für mich persönlich glaube ich nicht an eine Erlösung durch ein höheres Wesen. Mir kommt sehr nahe, dass ich mich nur bessern kann, wenn ich etwas dafür tue. Für mich kann keiner etwas tun. Nur ich kann versuchen, Böses zu unterlassen.

 

ÖBR: Wenn ich Sie spontan fragen würde, haben Sie noch einen Herzenswunsch?

 

Ingeborg Hungerleider: Gesund bleiben.

 

ÖBR: Gibt es eine Frage, die Sie noch gerne beantworten möchten, die ich aber nicht gestellt habe?

 

Ingeborg Hungerleider: Nein, wir können alles abhaken.

 

ÖBR: Vielen Dank für das nette Gespräch.

 

Fritz Hungerleider (1920–1998)

 

Fritz Hungerleider entstammte einem gemischtkonfessionellen Elternhaus: Sein Vater, ein Kaufmann, war Jude, die Mutter Katholikin. Ihr Sohn entwickelte großes Interesse an beiden Glaubensrichtungen. Er zeigte früh philosophische und musische Neigungen. Auf Veranlassung des Vaters absolvierte er aber ein wirtschaftlich ausgerichtetes Realgymnasium und maturierte im Jahr 1938.

 

Bald nach dem „Anschluss“ schickten ihn die Eltern nach Shanghai, das in den kommenden Jahren ein bedeutender Zufluchtsort für viele Wiener Juden wurde. Zunächst war er allein, später kam die Familie nach. Sie etablierten ein Hemdengeschäft; der junge Fritz ließ außerdem seine Stimme ausbilden, sang im Chor und gab auch Einzelkonzerte. Er lernte die 1926 geborene Ingeborg Mannheimer aus Frankfurt kennen, die mit ihrer jüdisch-orthodoxen Familie in der Nachbarschaft wohnte. 1943 heirateten die beiden; im Jahr darauf starb Hungerleiders Vater.

 

1947 kehrte das junge Paar nach Wien zurück, wo sie das Geschäft des Vaters weiterführten. Bereits in Shanghai hatte sich Hungerleider sehr für chinesische Religionen interessiert. Dort hatte er die Erstausgabe von Schopenhauers Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ erworben und wurde dadurch auf den Buddhismus aufmerksam. In Wien befasste er sich nun mit der Theravada-Tradition. Dabei war zunächst der Arzt Anton Kropatsch sein Lehrer. 1948/49 gründeten die Wiener Buddhisten eine „Buddhistische Gesellschaft“. 1955 übernahm Hungerleider deren Leitung.

 

1956 bereiste das Paar Sri Lanka und Thailand. Hungerleider entschied sich anschließend, das Geschäft aufzugeben und sich ganz der spirituellen Entwicklung zu widmen. Inzwischen hatte er zum Zen-Buddhismus gefunden. Beide reisten nun nach Japan und verbrachten mehrere Monate in einem Rinzai-Kloster in Kyoto.

 

Zen war mittlerweile im angelsächsischen Sprachraum bekannt geworden, nicht aber in Deutschland und Österreich. 1961 hielt Hungerleider sein erstes Meditationsseminar in Roseburg östlich von Hamburg; viele weitere sollten folgen. Er beschäftigte sich immer mehr mit der Mystik, wobei er aus ganz verschiedenen Traditionen schöpfte. In einem Formular für den Unterricht in einem katholischen Kloster bezeichnete er sich einmal als jüdisch-christlich-islamisch-buddhistischen Taoisten mit hinduistischen Neigungen.

 

Im Rahmen seines Engagements nahm Hungerleider 1972 als Vertreter Österreichs und Deutschlands an der „World Fellowship of Buddhists“ in Colombo teil. Im Jahr darauf empfing er den Dalai Lama bei dessen erstem Besuch in Wien. 1974 wurde Hungerleider in Anerkennung seiner ökumenischen Bestrebungen in den „Orden des Heiligen Lazarus von Jerusalem“ aufgenommen. 1976 trat er als Leiter der „Buddhistischen Gesellschaft“ zurück – nach eigenen Angaben, weil er sich nicht mehr durch eine einzige Konfession abstempeln lassen wollte. Im Hintergrund standen aber auch Auseinandersetzungen um den zukünftigen Kurs des Buddhismus in Österreich.

 

Kurze Zeit später erlebte Hungerleider zwei tiefe mystische Erfahrungen. Die eine ereignete sich 1977 in Bethlehem, die andere bei einem Besuch der damaligen Armenischen Sowjetrepublik. Darüber sowie über seine spirituelle Entwicklung insgesamt berichtete Hungerleider 1988 in einem Büchlein mit dem Titel „Mein Weg zur Mystik“. Es war seiner Frau Ingeborg „in tiefer Dankbarkeit“ gewidmet.

 

Interview: Hannes Kronika, Fotos: Ida Räther



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